Die Erinnerung aus meinen ersten beiden Besuchen in Tel Aviv ist nicht die, dass diese Stadt sich zum Fahrradfahren anbietet: der Verkehr ist so chaotisch wie in anderen Großstädten, die Straßenführung ist bisweilen abenteuerlich, die Fahrweise unterschiedlich. Radwege gibt es am Strand und an einigen prominenten Strecken. Und sie schienen mir den Radwegen nicht unähnlich, die ich aus Italien kenne: dort sind sie gern pompös beschildert und bezeichnet, so als wolle man allen zeigen: „seht her, was für tolle Radwege wir haben“, nur damit sie zwei Ecken weiter gegen die Wand enden.
Aber ich bin schon in einigen Ländern Fahrrad gefahren und nie habe ich es bereut. Warum es also nicht auch hier probieren? Es muss ja nicht mitten durch die Stadt gehen.
In der Ben Jehuda-Straße, fußläufig nur ein paar Minuten entfernt von den Hotels der Hayarkon-Straße, wo die meisten Touristen – so wie ich – eingelagert sind, befinden sich 2 Fahrradverleihe (Cycle und O-Fun), die für 55 oder 60 Schekel (ca. 12 Euro) pro Tag Fahrräder zur Verfügung stellen.
Die Fahrrad-Anmietung folgt streng dem israelischen Grundprinzip „warum einfach wenn es auch kompliziert geht?“. Ohne Kreditkarte, so informiert mich die freundliche Verleiherin, könne sie mir kein Rad geben. Sie brauche die Kreditkartennummer oder wenigstens eine Passkopie zur Sicherheit. Also nochmals zu Fuß zurück zum Hotel und wieder hin zum Verleih mit Kreditkarte und Pass. Jetzt aber ist dort viel Betrieb, einige Kunden bringen Fahrräder zurück, andere leihen, wieder andere wollen ihr Rad reparieren lassen. Ich habe mir vorgenommen, mich vom ersten Tag an in orientalischer Geduld zu üben und warte. Eine „Minutenmeditation“ aber gelingt nicht recht, denn es wird warm und wärmer in der Sonne; ich bewege mich in den Schatten aber dort ist es genauso warm und ich warte. Dann endlich lassen sich die Formalitäten mit Unterschrift unter den Vermietungsvertrag regeln, auch einen Stadtplan gibt es noch gratis dazu und los geht´s.
Ich wende mich zunächst Richtung Meer und folge dann dem Küstenweg nach Norden Richtung Hafen. Der ehemalige Hafen von Tel Aviv wurde um die Jahrtausendwende schick gemacht, nachdem er zuvor seine eigentliche Bedeutung an Ashdod und Haifa verloren hatte und still vor sich hin verrottete, bis man sich an ihn erinnerte und ihn zu einer coolen Flaniermeile mit Clubs, Restaurants, Kleidungsgeschäften, Sportgeschäften und dergleichen umbaute. Das Konzept ist voll aufgegangen. Der Hafen ist heute praktisch immer gut besucht, am Shabbat ist er voll, die Bars und Restaurants sind wirklich gut und die Immobilienpreise inzwischen kaum zu bezahlen. Das alles steht diesem Hafen auch zu, denn seine Bedeutung für die Stadt in der relativ kurzen Zeit seiner Existenz war enorm. Der Hafen von Tel Aviv stellte nichts weniger als die Hinwendung der Juden in Israel zum Meer dar. Die Juden sind traditionell kein Seefahrervolk und auch als sie Tel Aviv 1909 in den Dünen nördlich von Jaffa gründeten und aus dem Nichts, oder besser aus dem Sand diese Metropole schufen, da geschah dies rund einen Kilometer vom Meer entfernt. Erst später schloss man durch weitere Landkäufe von arabischen Grundbesitzern die Lücke zum Meer.
Der Hafen machte die erste rein jüdische Stadt der Welt unabhängig vom arabischen Jaffa. Nun war es möglich, selbst neue Einwanderer aufzunehmen. Der Bau des Hafens geschah unter der Leitung des legendären Bürgermeisters Meir-Dizengoff, eines jener visionären Zionisten, die diese Stadt und das ganze Land mit eisernem Willen und ungeheuerlicher Dynamik errichtet haben. Von ihm ist die Anekdote überliefert, dass er bei Baubeginn zur Grundsteinlegung einen Stein ins Wasser warf und sich dann an die Umstehenden wandte mit den Worten: „Mitbürger! Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Tel Aviv keinen Hafen hatte…“.
Weiter nördlich hinter dem Szenehafen überquere ich die Mündung des Yarkon-Flusses und erreiche das Elektrizitätswerk und den zweiten Flughafen von Tel Aviv, Sde Dov. Der Weg ist durchweg sehr schön, ich folge bei bestem Wetter – bei was auch sonst? – dem Radweg am Meer und fahre bei leichtem Gegenwind stetig Richtung Norden, wo in der Ferne bereits die Hotels des noblen Städtchens Herzliya zu sehen sind. Ich beschließe erst jetzt, wohin es eigentlich gehen soll und entscheide, bis Herzliya durchzufahren, um den Ort wiederzusehen, an dem ich schon im Februar ein paar Tage verbracht habe, als wir zu jener tanzintensiven Hochzeit eingeladen waren.
Leider endet der gemütliche Radweg schließlich an einer großen Düne, auf der oben Stacheldraht und Wachtürme auf eine Militäranlage schließen lassen. Aber noch gibt es eine Straße, die sich bald vom Meer entfernt und es scheint mir angeraten, einer Stichstraße zu einem Hotelneubau zu folgen, die wieder zum Strand zurück führt. Von dort, so die Annahme, wird es wieder einen Weg am Meer geben. Weit gefehlt, wie sich bald zeigt. Die Auskunft eines entgegen kommenden Radlers, der auf meine hebräische Frage nach der Qualität der Wegstrecke auf Englisch erläutert, dass es „OK, just a little bit rocky“ sein würde, bestätigt sich etwas über das „little bit“ hinaus: es wird sehr steinig und der steinige Weg ist nicht kurz, bis nach Herzliya, er ist eher lang, er hört nicht auf, er scheint zwischenzeitlich endlos, während die vorbeifahrenden Autos mich in Staub hüllen aber dann ist Herzliya doch erreicht und es geht auf Asphalt weiter.
Ich lege eine nostalgische Mittagspause in meiner Stammstrandbar in Herzliya ein und genieße den Blick auf den israelischen Winter: Schwimmen, Sonnenbaden, Wellenreiten. Dann geht es weiter. Die Idee ist die, den Rückweg jetzt in einem Bogen von der Küste weg durchs Land zu nehmen, um ein wenig die nördlichen Vororte kennen zu lernen und um nicht auf demselben Weg zurück zu fahren, auf dem ich gekommen bin. Ein weiterer Fehler und diesmal ein verhängnisvoller, wie sich bald heraus stellt!
Von dem Strand „Chof Ha-Sharon“ beim Sharon-Hotel in Herzliya fahre ich nach Osten, überquere die Nord-Süd-Bahnlinie und erreiche den Ort Ramat Hasharon: das Niveau nimmt etwas ab aber es bleibt hübsch – aus Villenvierteln werden Einfamilienhaussiedlungen, gepflegte Gärten, ruhige Straßen, so weit so gut. Im Ortszentrum von Ramat Hasharon nimmt der Verkehr nun aber stark zu und als ich mich nach Süden wende, um wie geplant parallel zur Küste nach Tel Aviv zurück zu fahren, stehe ich bald in einem Gewirr von Autobahnen und autobahnähnlichen mehrspurigen Straßen, Auf- und Abfahrten, grünen Schildern (Autobahn) mit Hinweisen Richtung Jerusalem und Haifa. Dazwischen Kasernen und Militäranlagen und auch mal ein großes Shopping Center, das eigentlich nur von der Autobahn aus erreicht werden soll, das ich aber mit meinem Mietrad erreicht habe und nun nicht mehr weiß, wie ich hier wieder weg kommen soll.
Die Befürchtung, dass ich nur genau den Weg wieder zurück fahren kann, den ich gekommen bin, also in großem Bogen nach Nordwesten zurück ans Meer, was den Tagesausflug nicht verlängert sondern verdoppelt, wird allmählich zur Gewissheit, als ich plötzlich einen Radfahrer sehe, der nach Süden, Richtung Tel Aviv auf die Auffahrt zufährt, vor der ich gerade kapituliert habe. Ich frage ihn per Zuruf über die Straße hinweg, ob man tatsächlich in seiner Richtung mit dem Rad nach Tel Aviv kommt. „Nach Tel Aviv nicht aber nach Ramat Gan„, erklärt er mir und das ist wunderbar, denn Ramat Gan ist so gut wie Tel Aviv. Diese Ansiedlung ist zu einer wichtigen Business- und Industrie-, aber auch Wohnvorstadt mit heute 130.000 Einwohnern geworden, mit Tel Aviv de facto zusammen gewachsen und das Zentrum des israelischen Diamantenhandels. Das ist nicht ganz unerheblich, denn das kleine Israel ist der größte Diamantenexporteur der Welt.
Ich also folge meinem Retter, der eine orangene Schutzweste mit Leuchtfarben, ähnlich einem Straßenarbeiter trägt. Ich frage mich, ob er sie noch von seiner Arbeit am Leib behalten hat oder ob er sie trägt, um die lebensgefährliche Strecke zu überstehen, die wir jetzt fahren. Denn meine Vermutung, dass es hier auf die Autobahn geht, war zwar nicht ganz richtig, weil eine dritte Straße zwischen den beiden Auffahrten im Bogen nach Ramat Gan und also nicht auf die Autobahn führt, aber auch diese Straße ist sechsspurig und keine Idylle für den Radfahrer. Schließlich hält mein Vordermann mit der Schutzweste an einer Art Kreuzung, an der wir nun irgendwie vier Fahrspuren im dichtesten Verkehr (Nachmittag, Rush Hour) überqueren sollen und das scheint auch nach minutenlangem Warten schlicht unmöglich: der Strom der Autos ist unaufhörlich, lückenlos und die Geschwindigkeit zu hoch. Schließlich, nach sicher nicht weniger als 10 Minuten, erwische ich doch eine Lücke und stürze mich nach vorn über die vier Fahrspuren hinweg auf die Linksabbiegerspur, die wir erreichen müssen. Mein Begleiter ist überrascht, ruft mir noch etwas Anerkennendes ob meiner schnellen Reaktion zu, bleibt aber selbst zurück. Ich überquere die Kreuzung und warte dann auf ihn. Aber er hängt weiter fest. 2 Minuten vergehen, 4 Minuten, 6,8,10 Minuten. Er kommt nicht weg. In der Ferne hinter einem Ozean aus Autos, Lastwagen und Bussen sehe ich ihn winken und das heisst: du musst nicht warten, vielleicht übernachte ich hier. Ich fahre.
Den Abschluss des Tages bildet dann noch der Yarkon-Park, den ich nun erreiche. Hier beginnt wieder Tel Aviv und ich folge dem Fluss zurück zum Hafen und zur Stadt. Radfahren in Israel: es scheint eine durchwachsene Angelegenheit zu sein, zumindest im Umkreis von Tel Aviv. Schön, interessant und riskant liegen nah beieinander. Nun, es ist Israel.