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Tel Aviver Taxis sind eine feine Sache. Die Wartezeit auf ein freies Taxi an einer beliebigen Straßenecke beträgt nach meinen Erfahrungen durchschnittlich 32 Sekunden. Normalerweise sind die Wagen sauber und einladend, man erkennt sie problemlos an ihrem einheitlichen Erscheinungsbild: weißer Wagen mit gelbem Schild oben drauf. Die Preise sind moderat: für umgerechnet fünf oder sechs Euro durchquert man die ganze Stadt.

Die Fahrer sind in der Regel gesprächige Menschen, die Auskunft über alles geben, was der Kunde wissen will. Offenbar fahren sie nicht nur für Geld durch die Gegend, sondern auch aus einem weiteren Grund: die Welt kennenlernen. Die Nachbarn Israels sind entweder erklärte Feinde oder leben in einem erzwungenen Frieden mit dem Judenstaat. Also ist es nicht so einfach, mal eben ins Ausland zu reisen. Aber wozu auch? Man wird Taxifahrer in Tel Aviv und die Welt kommt zu einem ins Auto.

In acht Tagen in Tel Aviv bin ich ca. 25 Mal Taxi gefahren. Meine Umfrage ergab wie folgt: die meisten Taxifahrer rechnen in absehbarer Zeit mit einem Krieg mit dem Iran und/oder Hamas-Hizbollah. Ausnahmslos alle waren zufrieden mit der Wahlniederlage von Obama bei den Mid Term Elections. Niemand hat ein persönliches Problem mit Arabern. Alle misstrauen Arabern. Fast alle glauben, dass „der Westen“ nichts versteht von „dem Nahen Osten“. Alle schimpfen auf die israelische Regierung. Manche glauben, Israel sei ein reiches Land. Manche sagen, Israel habe zu wenig Geld. Einige jüdische Taxifahrer äußern sich in einer Art über Juden, die in Europa blanker Antisemitismus wäre. Kein Taxifahrer wusste, was ich meine, wenn ich von der „italienischen Schweiz“ sprach, aber einzelne haben schon einmal den Namen Lugano gehört. Ungefähr die Hälfte der Taxifahrer sind russischer Abstammung. Hiervon wieder ungefähr die Hälfte konnte weniger Hebräisch als ich. Ein Taxifahrer erklärte, er habe kein Problem mit Deutschen, erklärte aber auch sehr entschieden, dass er „darüber“ nicht sprechen wollte. Alle freuen sich, wenn man zumindest versucht, Hebräisch zu sprechen und helfen gern mit Erläuterungen und Korrekturen.

Das ist überhaupt der Hauptvorteil für den Hebräisch-Lernenden. Wenn der Ulpan (Intensivkurs) zu teuer oder zu aufwändig ist, dann fahren Sie einfach Taxi, wenn Sie hebräische Konversationsstunden wünschen. Der Tarif pro Lektion ist nicht zu hoch (siehe oben), man sieht unterwegs noch etwas von der Stadt und man kann nach Herzenslust plaudern. Man muss nur deutlich machen, dass man nicht Englisch sprechen will und beharrlich dabei bleiben, wenn der Fahrer in der Hitze der politischen Diskussion zu schnell und zu kompliziert Hebräisch spricht und dann auf Englisch umschaltet. Und die Diskussion ist immer politisch. Immer. Kein Entkommen.

Aber ob man nun Hebräisch spricht oder nicht – Taxis sind ein wunderbares Fortbewegungsmittel in Tel Aviv.

Tja, die Independence Hall am Rothschild Boulevard… zwei Mal war ich zuvor in Tel Aviv – beide Male habe ich davor gestanden und bin nicht reingekommen, weil sie entweder gerade geschlossen war (nur bis 14.00 Uhr geöffnet!) oder ich doch anderes beabsichtigte, angesichts der knappen Zeit und der vielen Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Tag an einem der fantastischen Strände von Tel Aviv im ewigen israelischen Sonnenschein. Was soll hier auch zu sehen sein? – mag man denken. Hier hat Ben Gurion die Gründung des Staates Israel verkündet – das ist lange her, das klingt nach verstaubten Vitrinen und vergilbten Wänden. Man weiß davon, reicht das nicht? Ist der Ort selbst noch interessant oder relevant für das Leben der Stadt?

Nun, diesmal bin ich reingegangen und ich sage: sehr interessant und durchaus relevant.

Zunächst war das Interesse ohnehin größer diesmal, denn ich habe mich in diesen Tagen intensiv mit der Geschichte der Stadt beschäftigt und die Independence Hall ist ein wichtiger Teil davon. Tel Aviv ist keineswegs die „Stadt ohne Geschichte„, weiß ich nun, nach einigen hier verbrachten Tagen, und wenn sie es einmal war, dann ist sie es heute nicht mehr. Stadtgeschichte begegnet dem Besucher auf Schritt und Tritt. Das hundertjährige Jubiläum 2009, die Aufnahme ins Weltkulturerbe der UNESCO und der anhaltende Besucherstrom haben das Gedächtnis der Stadt wieder erweckt oder gestärkt? Oder war das Bewusstsein für die eigene Geschichte immer präsent? Ich weiß es nicht.

Wie oft habe ich in diesen Tagen das Foto gesehen, auf dem die Mitglieder der Siedlergemeinschaft „Achusat Bait“ in den Dünen stehen, als die gemeinschaftlich angekauften Grundstücke in einzelnen Parzellen an die 60 ersten Familien verlost werden? In Büchern, an Wänden, im Haus der Stadtgeschichte „Beit Ha-Ir“, im Shalom-Tower, in Restaurants und bei der „Bauhaus-Stadtführung“ – einfach überall ist es zu sehen. Auch im Eingangsbereich der Independence Hall taucht es wieder auf, über Eck gehängt, so dass der einzeln stehende Mann im Hintergrund in der Mitte noch einmal besonders hervorgehoben wirkt, der der Legende nach „Meschugaim! (Ihr seid verrückt!)“ gerufen haben soll, weil der Bau einer Stadt in den Dünen seiner Meinung nach (und nicht nur seiner) eine Tat des Wahnwitzes war.

Diese Verlosung, die legendäre Gründung von Tel Aviv, sie fand hier statt, genau auf dem Fleck, auf dem heute die Independence Hall steht. Bürgermeister Meir-Ditzengoff erhielt zufällig diese Parzelle für sein Privathaus, es war genau die, auf der er selbst bei der Verlosung stand. Hier baute er sein Haus, das das erste politische Zentrum der neuen Stadt wurde. In den letzten Jahren seines Lebens aber ließ er es abreißen, um ein Museum errichten zu lassen. Als er 1936 starb, bat er seine Mitbürger testamentarisch, „sein jüngstes Kind“ zu ehren und zu pflegen – das Museum. Und 12 Jahre später, acht Stunden bevor das britische UN-Mandat in Palästina endete, wurde es zur Stätte der historischen Staatsgründung. So viel zur Stadt „ohne Geschichte“.

Von außen betrachtet scheint es schwierig, Ditzengoffs Bitte mit Leidenschaft nachzukommen: ich muss länger nachdenken, bis ich mich erinnere, wann ich jemals ein hässlicheres Gebäude gesehen habe. Vielleicht hält auch das – außer der Aussicht auf vergilbte Wände und verstaubte Vitrinen – manche Besucher der Stadt vom Besuch des Hauses ab.

Als ich die historisch-weltpolitische Halle des historisch-symbolischen Hauses an historisch-legendärer Stelle betrete, überrascht mich ein unerwarteter Anblick und ein unerwarteter Klang: Gesang. Die israelische Nationalhymne erklingt, gesungen von einer japanischen Reisegruppe, die auf die Stühle vor dem Podium platziert wurde, von dem Ben Gurion die Unabhängigkeitserklärung verlas. Als ich näher trete und die Szene beobachte, stelle ich fest: es ist nicht irgendeine japanische Reisegruppe – es sind japanische Juden. Gibt es in Japan Juden? – frage ich mich und beschließe, das so bald wie möglich zu recherchieren. Aber dass es japanische Juden geben muss, wird mir schon jetzt klar, denn ich habe sie ja vor mir. Mit einer Weste mit Davidstern und einem Israelfähnchen pro Person ausgestattet lauschen sie ergriffen, bewegt, zu Tränen gerührt den Worten des Führers, der die Begebenheiten an jenem Maitag vor 62 Jahren auf Hebräisch erläutert, was dann vom Dolmetscher, der auch Reisegruppenleiter ist, auf Japanisch übersetzt wird. Auch ich lausche beglückt, weil der israelische Sprecher alles so schön langsam und artikuliert für den Dolmetscher ausspricht und dann die Pause für die Übersetzung macht, weshalb auch ich fast jedes Wort verstehe.

Japanische Juden in der Independence Hall – diese Überraschung und die fühlbare Wichtigkeit des Besuches und des Ortes für diese Menschen, ihre Rührung und tiefe Bewegung erwecken den Ort zum Leben und geben ihm für den Moment meines Besuches eine aktuelle Bedeutung, die er sonst so nicht haben könnte. Während ich mit den Japanern lausche, beginne ich den Raum sozusagen mit ihren Augen zu sehen. Es ist nicht nur die noch weitere Reise, die sie zurück zu legen haben, es ist ihr Glaube, als winzige Minderheit in Japan, ihr Heimkommen nach Israel und an den Ort der Staatsgründung, die keinem Juden in der Welt gleichgültig sein kann, egal wie er zu dem Land steht, es ist ihre Dankbarkeit, hier sein zu dürfen, ein Vaterland zu haben – das alles ist spürbar und sichtbar in ihren Gesichtern und ihren staunenden Augen.

Der israelische Führer weist auf die Bilder hin, die hier 1948 im Original hingen und heute durch Kopien ersetzt sind. Sie erzählen von den Leiden der Diaspora. Der „Jew with Tora“ von Marc Chagall zum Beispiel ist zu sehen, der im Schwarz-Weiß seiner Welt seine rote Tora in den Armen hält – sein einziger Besitz, seine Sicherheit, er hält sie wie sein Kind und sie ist sein Kind, denn sie ist nicht nur seine Vergangenheit sondern auch seine Zukunft. Besonders berührt mich „After the Progrom“ von Maurycy Minkowski. Es ist Ratlosigkeit vor allem und Müdigkeit, was in den Gesichtern dieser Familie zu sehen ist, Ratlosigkeit nach dem überstandenen Progrom, die Frage nach dem „Warum“, nach dem „Wie lange noch“, nach dem „Wohin“. Und die Antwort auf dieses „Wohin“ musste nach 2000 Jahren Verfolgung lauten: nach Israel.

Tel Aviv, die erste jüdische Stadt der (modernen) Welt, Israel als der Staat der Juden – das waren keine Entscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können. Sie sind schlicht die Verkörperung, die notwendige Manifestierung eines jahrhundertealten Wunsches, eines Bedürfnisses, eines Dranges, der getrieben von Sehnsucht, von Angst, von Tatkraft diese Stadt und dieses Land schaffen musste. Auf diesem Fleck, an diesem Ort wurde der Traum Realität und dies ist noch deutlich spürbar – mit oder ohne japanische Juden und trotz vergilbter Wände und verstaubter Vitrinen – hier in der Independence Hall, dem hässlichsten Haus der Stadt.

Meine Kenntnis mediterraner Strände ist durchaus nicht vollständig aber ich darf behaupten, mir mit den Jahren einen guten Überblick verschafft zu haben. Ich kenne italienische Strände, oder besser gesagt, ich habe auf, an und mit ihnen viele Jahre meines Lebens verbracht. Ich kenne außerdem französische, spanische, griechische und portugiesische (am Atlantik, allerdings) und nun auch israelische Strände. Es gibt Vor- und Nachteile hier und dort, mal ist das Wasser dort klarer, mal die Küste hier reizvoller – aber es gibt einen Aspekt an israelischen Stränden, der einfach nicht zu übertreffen ist: die Strandbar.

Und das aus fünf hauptsächlichen Gründen:

1) Die Möblierung: die typische israelische Strandbar bietet dem Gast Sitzgruppen aus Sesseln um Tische im Sand, die im Prinzip ein eigenes Wohnzimmer für jede Gruppe an Gästen darstellen. In diesen Sesseln oder niedrigen Plastikstühlen versinkt man in bequemer Nachlässigkeit in einer Haltung, die sich derjenigen bei Mahlzeiten im antiken Rom annähert, nur bequemer halt. Statt auf den Fernseher blickt man in seinem Strandwohnzimmer aufs Meer und auf das Geschehen am Strand, statt der Fernbedienung hält man die Speise- und Getränkekarte in der Hand und nichts erscheint mehr schwierig. Aus dem Yoga oder aus der Zen-Praxis kennt man die Herstellung eines bestimmten Geisteszustandes durch eine bestimmte Haltung oder Positionierung des Körpers – eben das gelingt in der israelischen Strandbar: in dieser halb liegenden halb sitzenden Position ist alles Entspannung, kann es keine Probleme mehr geben. Selbstverständlich ist der Himmel blau, selbstverständlich ist es warm und selbstverständlich geht es dem Gast gut.

2) Die Sandwiches: Sobald man also im Strandsessel versunken ist, blickt man auf die Karte, denn man ist ja gekommen um zu essen und zu trinken, was angesichts der bequemen Körperposition in Vergessenheit geraten könnte. Die Karte enthält meist keine Besonderheiten, man entdeckt das mittelmeerübliche Angebot an Salaten, Sandwiches, Toasts, Pasta, Fisch, Fleisch und entsprechenden Beilagen und Süßspeisen. Deshalb kann dem Anfänger leicht ein Fehler unterlaufen, wenn er eines nicht beachtet: Israel ist seit seiner Gründung bedroht und muss immer verteidigungsbereit bleiben. Dies muss der Grund dafür sein, dass die Portionen so bemessen sind, dass man immer genug Energie aufnimmt, um notfalls direkt nach der Mahlzeit Syrien einzunehmen. Insbesondere der Begriff „Sandwiches“ verleitet zu einer massiven Unterschätzung der Sachlage. Wenn man ein „Karich“ bestellt, so erhält man in aller Regel ein derart reichhaltig gefülltes, belegtes und überhäuftes Gesamtkunstwerk an (großem) Brot mit Füllung, dass ungefähr anderthalb reguläre Mahlzeiten abgedeckt sind. Doch ist das nur die eine Seite des Tellers: auf der anderen befindet sich – als Ergänzung, die nicht extra bestellt werden muss – ein Berg an Salat, den ganz abzutragen mir bisher nur sehr selten gelungen ist (weitere anderthalb Mahlzeiten). Lässt man sich, so wie ich, aus Gier zu dem Fehler verleiten, zu diesem „Sandwich“ noch Pommes Frites hinzu zu bestellen (die scheinbar gesetzlich nur in Portionen von mindestens 1 kg verabreicht werden dürfen), so kann man jede Wette eingehen, dass es nicht gelingen wird, das alles aufzuessen. Und sie sind nicht nur reichhaltig – sie schmecken auch vorzüglich, diese „Krichim“; ich empfehle insbesondere die Thunfisch- oder Lachsversion.

3) Die Musik ist vielfältig und abwechslungsreich, wie die Herkunftsländer der Neueinwanderer nach Israel – aber sie ist nie schlecht. Insgesamt gibt es eine Haupttendenz zu relaxter elektronischer Musik und gemäßigtem Techno. Gegen Abend spielen die Klänge gern in den Bereich Classic Rock hinüber aber meist (zum Glück) nicht zu lang und nicht ausschließlich. Vermieden wird weitgehend Strandkitsch wie z.B. billiger Reggae. Gelegentlich kann die Musik etwas laut ausfallen, was aber auf höfliche Bitte hin gern korrigiert wird. Auch israelische Musik wird geboten, die arabische Anklänge aufweisen kann, was für unsere Ohren ungewohnt ist, aber auch hier habe ich noch keine Zumutungen erlebt. Dümmlicher Hitparadenschrott oder stressige Musik (Bebop Jazz…) kommt nicht vor. Gesamtnote: gut.

4) Die Freundlichkeit der Bedienung ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, dass ein Großteil der Bezahlung aus Trinkgeldern zu bestehen scheint. Jedenfalls steht immer „Service is not included“ auf den Rechnungen, oft wird es noch zusätzlich mit dem Kugelschreiber unterstrichen. Ich stelle jedenfalls fest: ich bin noch nie unhöflich behandelt worden – im Gegenteil. Die Kellner/innen erweisen sich meist als gesprächig und humorvoll, sobald man sie irgend etwas fragt, was über das normale Schema der Kommunikation Kunde-Kellner hinaus geht, halten sich aber angenehm zurück, wenn man in Ruhe gelassen werden will. Vor allem fällt eine Grundwachsamkeit auf: nie muss man lang warten, bis ein Kellner den Kunden bemerkt, immer scheint jemand die Kunden zu beobachten und bereit zu stehen, die Wünsche sofort zu erfüllen. Schnelle Reaktion, freundliche Behandlung, aufmerksame Bedienung, wenn gewünscht humorvolle Unterhaltung: der israelische Strandbarkellner ist entweder sehr gut ausgebildet oder er/sie besitzt ein Naturtalent für Kundenservice. Ich weiß nicht, welcher Grund zutrifft und ich brauche es nicht zu wissen – so lange ich weiter ungestört genießen kann.

5) Die Gesamtatmosphäre gegen Abend: Mit guter Speise gesättigt, in bequemer Lage sitzend, freundlich behandelt und von angenehmen Klängen umgeben kann man sich nur wohlfühlen. Gegen Abend aber kommt noch hinzu, dass israelische Mittelmeerstrände nach Westen gerichtet sind und dort geht die Sonne unter. Wenn nun die Sonne in den schönsten Farben am Horizont versinkt und ein leichter Wind vom Meer her angenehme Kühlung nach einem warmen oder heißen Tag bringt – dann kann der seelische Gesamtzustand an Perfektion heranreichen, kann der Zeiger immer mal wieder bis 100% ausschlagen. In Tel Aviv beginnt nun der eigentliche Hauptteil des Lebens: die Nacht. Mit der Abenddämmerung fängt hier das Leben an, ob man dies nun wichtig nimmt (wie viele der Gäste hier) oder nicht (wie ich).

Wenn die Kite-Surfer ihre umfangreichen Pakete einrollen und die Kinder das letzte Strandfußballspiel beenden, weil es dunkel ist – dann gehen die ernsthafteren Beachvolleyballparteien unter Flutlicht weiter und die Strandbar wird zum Ausgangspunkt für die Verlockungen der Nacht. Ich selbst nehme daran weniger Teil, sondern verziehe mich nach einer Abendmeditation normalerweise nicht zu spät ins Bett. Und doch gefällt mir auch dies an Tel Aviv: wenn jemand oder etwas so viel Energie hat, wie diese Stadt, dann ist es klar, dass nachts nicht nur geschlafen wird.

Wer Tel Aviv von oben sehen möchte, der sollte nicht zum Shalom-Tower fahren. Entgegen den Angaben in den gängigen deutschsprachigen Reiseführern ist die Aussichtsplattform des ältesten Wolkenkratzers der Stadt nun endgültig geschlossen. Aber es gibt das wesentlich höhere Azrieli Center mit seinen drei Türmen, von denen einer quadratisch, einer dreieckig und einer rund ist. Der runde Turm hat im 49. Stock eine Aussichtsetage mit Restaurant.

Als ich die Aussichtsetage erreiche, muss ich feststellen, dass gerade renoviert wird. Es riecht nach Farbe, die Fenster sind staubig – trotz erkennbarer Bemühungen, das zu verhindern – und hier und da mit Farben bekleckst. Die Reiseführer versprechen, dass man Kopfhörer-Guides bekommt, die in verschiedenen Sprachen erläutern, was es zu sehen gibt. Auch von einem Film über die Stadtentwicklung war die Rede. Nichts davon ist während der Renovierungsarbeiten vorhanden. Und doch sehe ich sofort, dass es sich gelohnt hat – denn der Blick durch die Scheiben hinab auf die – tatsächlich! – weiße Stadt ist atemberaubend.

Tel Aviv hat Power. Die Stadt ist nicht immer schön, sie ist nur an wenigen Stellen romantisch, aber sie ist lebendig! Und sie strahlt eine Kraft und Energie aus, wie ich sie so noch nie an einer Stadt wahr genommen habe. Die Schubkraft, Schnelligkeit, Intensität des Lebens ist auch auf den Straßen leicht spürbar, hier oben aber wird sie manifest in den Bildern der Straßen, der umliegenden Hochhäuser, der weiten Bereiche weißer Gebäude und ganzer Stadtviertel und Vorstädte in weiß, die sich aneinander reihen, als wolle Tel Aviv nicht enden, als wolle die Welt Tel Aviv werden.

Es ist nicht so sehr der Blick Richtung Meer, der mich fasziniert. Es ist die Sicht in den Körper der Stadt hinein, auf seine Verkehrsarterien, auf die Organe und das Zellgewebe der Gebäude. Alle pulsiert, alles atmet Hitze, Leben und Bewegung. Die Azrieli-Towers sind nicht mehr die höchsten Türme hier, seit 2001 der Moshe Aviv Tower nebenan in Ramat Gan gebaut wurde und auch in der Nähe entstehen neue hohe, sehr hohe Bauten. Die Energie der Stadt ist nicht am Boden zu halten, sie strebt nach oben, sie strebt weiter und weiter und man meint, der Azrieli Turm würde ein weiteres mal überholt werden, noch während man hier steht und hinabschaut.

Haifa ist in der Ferne im Norden deutlich zu sehen, Ashdod im Süden im Sonnendunst, wahrscheinlich müsste Jerusalem auszumachen sein – doch mein Blick bleibt unten bei Tel Aviv, bei dieser vitalen Kraft. Tel Aviv war von Anfang an mehr als eine Stadt. Es war ein Traum, eine Idee, eine Wahnsinnstat, eine Unmöglichkeit, ein vorhersehbarer Fehler, ein Glücksfall und ein unansehnlicher Riesenerfolg. Und für die Menschen dort unten ist das alles Normalität. Pulsierende Normalität in der Hitze eines Novembernachmittags.

Die Idee, mir das Spiel anzusehen, kam mir als ich vorgestern auf der Strandpromenade deutsche Bierwampen sah, die mit Schalke 04-Hemden überspannt waren. Ich richtete an eine der Wampen die Frage, wann das Spiel denn stattfinde und siehe, sie sprach: „Dat Spiel is morgen. Dat Hinspiel war dreizueins, in der zweiundneunzigsten Minute hammwa noch einen rein bekommen. Ansonsten hätte es fünf oder sechsnull ausgehen müssen. So schlecht sind die.“

Nun, beschloss ich: da werde ich mal nachsehen, ob „die“ wirklich so schlecht sind und ob die anderen, die momentan vorletzte der Bundesliga sind, tatsächlich so leichtes Spiel haben werden, wie der weit gereiste Anhänger der Gelsenkirchener Fußballmannschaft annimmt.

Die Touristeninformation an derselben Strandpromenade ist ein erstaunlich kleines Bürolein, in das nicht viele Touristen passen, aber in dem zwei Damen arbeiten, die auf Zack sind. Die eine holt aufmerksam die Anfragen der Besucher ein und gibt sie an die andere weiter, die den Blick nicht vom Computermonitor nimmt, permanent ein Telefon am Ohr hängen hat, ihre Recherchen mit sichtbarer Routine und Treffsicherheit im Computer oder mit Hilfe von Listen und Verzeichnissen lanciert und die gewünschten Informationen mit allen Zusätzen und Eventualitäten auf Hebräisch an die erste Dame weitergibt, welche sie charmant auf Englisch ans Publikum veröffentlicht.

Die Damen belehren mich, dass das Vorverkaufsbüro für diese und andere Veranstaltungen wie Konzerte u.ä. „Lean“ heißt und in einer Passage in der Ditzengoffstraße 7 liegt. Man notiert mir die Telefonnummer auf einem Stadtplan, den man mir aushändigt, nicht ohne vorher den gegenwärtigen Standort und das Ziel eingezeichnet zu haben. Ich wundere mich nur, dass sie nicht um kurze telefonische Rückmeldung bitten, wenn man das Büro erreicht und die Karten erfolgreich gekauft hat und sicher hätten sie auch sofort für mich dort angerufen aber ich bat nicht darum und als ich danke, laufen schon neue Recherchen und neue Informationen werden aus dem kleinen Büro hocheffizient in die Welt lanciert, auf dass der Reisende sich wohl befinde, in Tel Aviv.

Bei „Lean“ angekommen, erfahre ich, dass die Karte auf der Haupttribüne stolze 440 Schekel (ca. 90 Euro) kosten soll. Nun, das ist der heutige Fußballwahnsinn und die ca. zwanzigtausend Euro, die allein ein Spieler wie der Schalker Stürmer Huntelaar pro Tag brutto an Gehalt kostet, wollen eingenommen sein (sein jetziges Gehalt bei Schalke kennt man nicht so genau aber bei Real Madrid waren es 4 Millionen netto jährlich und das sind für den Arbeitgeber rechnerisch ziemlich genau zwanzigtausend Euro brutto am Tag). Auf Nachfrage erfahre ich, dass es auch eine Karte für 220 Schekel auf der Gegentribüne gibt. Gegentribüne beim Volk statt Haupttribüne bei der Noblesse? – die Entscheidung fällt nicht schwer, wenn man wie ich vor allem die Atmosphäre spüren will.

Mit der Karte in der Tasche fahre ich am nächsten Tag im Taxi zum Bloomfield Stadion im Stadtteil Jaffa. Die Anreise macht keine Probleme und auch der richtige Stadioneingang ist leicht gefunden. Fast eineinhalb Stunden vor Spielbeginn nehme ich meinen Platz schon ein, denn so kann ich in Ruhe beobachten, wie sich das Stadion langsam füllt und sich die Atmosphäre aufbaut.

Die Schalker sind auch schon da, ein kompakter blauer Block in einer Ecke hinter dem Tor. Ein bisschen befremden sie schon, diese großen deutschen Schriftzüge auf den Spruchbändern, teilweise in Frakturschrift gehalten, die da lauten „Rheinland“, oder „Hagen“. Auch die Gesänge sind anders als die der Gastgeber. Die Deutschen sind als lautes Volk bekannt. Man erkennt sie an ihrem lauten Sprechen und an ihrem explosionsartigen Lachen. Nicht, dass dies als besonders störend empfunden wird, von Italienern, Briten, Schweizern oder Israelis, aber es unterscheidet sie von anderen Völkern, die sich ihrerseits wiederum durch andere Eigenschaften abheben. Wenn jedoch schon das Sprechen und Lachen der Deutschen als laut wahrgenommen wird, wie kommen dann diese Chöre an, mit denen nicht mehr als schätzungsweise zwei- oder dreihundert Schalker teilweise das Stadion anfüllen? Zudem verwenden sie gelegentlich eine besondere Technik, die ich bisher so noch nicht beobachtet habe, und das sieht so aus: die ganze Fangruppe verhält sich zunächst ruhig, weitgehend sitzend oder jedenfalls zurück genommen, um dann in einem Moment, plötzlich und sehr laut mit einem explosiven „SCHALKE“-Gebrüll gleichsam nach vorn zu springen. Die ganze Gruppe bewegt sich auf diese Art ruckartig nach vorn, als wolle sie attackieren, als wolle sie weiter, wohin auch immer… Mir scheint, dass die Umstehenden dies als vorlaut wahrnehmen und das Stadion pfeift – allerdings eine übliche Reaktion unter Fußballfans weltweit im Wechselspiel der Fangesänge. Ich habe im Allgemeinen nicht den Eindruck, dass man die Schalker besonders bewertet, weil sie Deutsche sind aber ganz sicher bin ich nicht. Vielleicht sind es auch die Hapoel Tel Aviv-Anhänger um mich herum nicht. Ich fühle mich selbst in keiner Weise unwohl als Alien in der israelischen Fankurve. Ich bin zwar entschieden der einzige, der nichts Rotes am Leib trägt, aber es gibt es keine schrägen Blicke oder gar Äußerungen irgend einer Art.

Dann kommen die Spieler zum Aufwärmen und sofort ist ein Name in aller Munde: Raul. Er ist der Star, den sie hier sehen wollen und den sie offenbar sehr schätzen. Ich höre die Umstehenden spekulieren, ob er wohl spielen wird. Man weiß hier den Stellenwert von Hapoel Tel Aviv auf internationaler Ebene realistisch einzuschätzen: es ist durchaus möglich, dass Schalkes Trainer Felix Magath seine Stars für andere, wichtigere Einsätze schont.

Dann geht´s los und das Stadion explodiert in rot als die Spieler auf den Rasen kommen und die Champions-League Hymne ertönt, die zwar kitschig und von jeder Fernsehübertragung her alt bekannt ist, mir aber dennoch einen Schauer der Rührung verpasst: immerhin ein Champions League-Spiel und dann in Tel Aviv.

Die Hapoel-Fankurve entrollt ein riesiges Banner mit dem Vereinsschriftzug und Hammer und Sichel über die ganze Tribüne hinweg (Ha-Poel = der Arbeiter), dann pfeift der Schiedsrichter das Spiel an. Ab jetzt wird es laut, sehr laut um mich herum. Man verfolgt das Spiel durchweg im Stehen, obwohl dies eigentlich Sitzplätze wären. Die Begeisterung ist enorm, die Gesänge laut, die Unterstützung für die geliebten Helden auf dem Rasen grenzenlos. Von den Schalkern ist jetzt nichts mehr zu hören und tatsächlich scheint sich die Begeisterung auf die Männer in rot dort unten zu übertragen: Hapoel macht es den weit favorisierten Schalkern nicht einfach.

Zur Pause Null zu Null und auch in der zweiten Halbzeit fallen keine Tore mehr, in der Hapoel immer besser wird und mehrfach dem entscheidenden Torerfolg nahe kommt. Auch der Taxifahrer auf der Rückfahrt, der das Spiel im Fernsehen gesehen hat, bestätigt meinen Eindruck, dass die Schalker es allein ihrem Torwart Manuel Neuer zu verdanken haben, dass sie hier nicht als Verlierer den Platz verlassen. Beim Abgang erhält Raul noch einmal Sonderapplaus, als einziger Spieler der Gegner. Er dankt seinerseits mit einer Applausgeste in Richtung Hapoel-Kurve, als er langsam den Platz verlässt. Die großen Stars beenden ja heutzutage ihre Karrieren, indem sie kurz vor der Ausmusterung noch ein oder zwei Jährchen in Dubai oder bei Los Angeles Galaxy kicken. Wenn es bald so weit ist, denn er ist ja nicht mehr der jüngste, wäre Raul hier zu Gast bei Freunden.

Wer sich in Tel Aviv aufhält und einen tollen Fußballabend genießen will, dem sei wärmstens empfohlen, zum Bloomfield Stadium zu kommen. Nähere Informationen zu Eintrittskarten aber auch zu allen anderen denkbaren Plänen und Aktivitäten halten sicher die beiden gewieften Damen von der Touristeninformation am Strand bereit.

Tel Aviv gilt als „Stadt ohne Geschichte“. In der einschlägigen Literatur ist zu lesen, sie habe von Anfang an eine Stadt der Gegenwart sein wollen, der Zukunft, der Dynamik, der Entwicklung. Ewige Rückbesinnung auf eine lange Geschichte – das war die Diaspora. Mit der massenhaften Rückkehr ins Land sollte es um das jüdische Leben heute und hier gehen – und es wurde Tel Aviv.

So hatte die Stadt ohne Geschichte folgerichtig keine Informationsstätte über die Stadtgeschichte. Erst mit dem hundertsten Jubiläum im Jahr 2009 wurde dies geändert und es wurde ein historisches Gebäude dafür umgebaut und einer neuen Nutzung zugeführt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil man in der Vergangenheit auch mit den heiligsten Symbolen der Stadtgeschichte nicht zimperlich umgegangen ist.

Das eklatante Beispiel hierfür war das hebräische Gymnasium: „Im Anfang Tel Avivs war <das Wort>; das ist wörtlich zu verstehen, denn die Stadt wuchs um eine Schule herum“, berichtete der schwedische Schriftsteller Marcus Ehrenpreis. Das hebräische Gymnasium war das Zentrum der frühen Siedlung und der neuen Stadt. Doch 1965 musste das Gebäude dem Shalom-Tower weichen, dem zu jener Zeit höchsten Gebäude Europas.

Ein anderes Beispiel ist die „Mograbi Oper“, das erste kulturelle Zentrum der modernen Stadt der dreißiger Jahre. Hierzu muss man sich die Bedeutung der Musik für die jüdischen Einwanderer und neuen Einwohner von Tel Aviv vergegenwärtigen: „Wer aus dem Flugzeug steigt und keinen Geigenkasten dabei hat, ist ein Pianist“ lautete eine volkstümliche Redensart. Aber auch das historische Gebäude der Oper musste weichen, nachdem eine neue Oper errichtet wurde. An der alten Stelle steht nun das „Opera-Building“, ein beeindruckender Riesenkomplex mit Geschäften und Lokalen im unteren Bereich und, ja was weiter oben? Es werden wohl Büros und Luxusappartements sein, wie in diesen Fällen üblich.

Das neue Haus der Stadtgeschichte aber ist im alten Stadthaus untergebracht, das nicht beseitigt wurde, um Platz für Neues und Moderneres zu machen, sondern das nach langer Vergammelung 2009 renoviert wurde. Der Name wurde für die neue Funktion einfach beibehalten: „Beit Ha-Ir“ – Haus der Stadt.

Ich entdecke es zufällig, denn in meinen Reiseführern mit Stand 2008/2009 (Du Mont, Lonely Planet, Baedecker) ist es noch nicht erwähnt. Aber es befindet sich am Ende der Bialik-Straße, die manch einer ohnehin besuchen wird, da dort die Häuser des Nationaldichters Chaim Nachman Bialik und des Malers Rubin zu besichtigen sind. Das prominent auf einer Anhöhe am Ende der Straße stehende Gebäude erschließt sich zunächst nicht sofort dem Zuschauer. Man versteht nicht so recht, worum es sich handelt und ob man hinein kann?

Ich wage es, finde die Tür geöffnet und bin positiv überrascht. Helle Räume empfangen mich. Der Pförtner am Eingang ist redselig. Auf meine Begrüßung erklärt er, dass er dem dort schon stehenden Herrn, einem Reisenden aus den USA, bereits einige einleitende Erläuterungen gibt und ich könne gern zuhören, wenn ich Englisch verstehe. Ich höre also zu und er erläutert.

Er erläutert, dass das ganze Haus weiß gehalten ist, weil Tel Aviv „die weiße Stadt“ sei. Es handle sich um das alte Stadthaus, dass man zum hundertsten Jubiläum wieder zum Leben erweckt habe. Dies sei lange das Zentrum der Stadt gewesen, vor dem Gebäude hätten die großen Versammlungen, Festzüge, Demonstrationen und Wahlkundgebungen stattgefunden. Jetzt habe man hier vor allem eine Fotoausstellung zu bieten. Aber es sei keine normale Ausstellung, es seien ausschließlich Fotos von Privatpersonen. Diese Fotos würden nun die Geschichte der Stadt dokumentieren, aus persönlicher Sicht, man könne die Stadt sozusagen mit den Augen ihrer Bewohner sehen. Ich beginne mich zu entspannen. Diese Erläuterungen werden wohl länger dauern.

Im unteren Teil der Haupthalle, so fährt der redselige Pförtner fort, habe man den Boden aus alten Fliesen gestaltet, die man aus dem Bauschutt historischer Gebäude hervor gezogen habe. Manchmal kämen Leute und würden die Fliesen ihrer früheren Küche wiederentdecken. Im Bereich der Freitreppe sei ein ständig laufender Film über die Stadtgeschichte zu sehen, der – ausschließlich mit Bildern und Musik – 100 Jahre Stadtgeschichte in 15 Minuten zeige. Aber das sei nicht alles: weiter oben habe man das Büro des legendären Bürgermeisters Meir-Ditzengoff rekonstruiert, mit den Originalmöbeln und Bildern. Er sei, wie wir sicher wüssten (wir nicken eifrig) lange Bürgermeister gewesen, bis auf eine kurze Unterbrechung von ein paar Jahren.

Mein amerikanischer Genosse beginnt sichtlich nervös zu werden. Er bestätigt mehrfach, dass dies alles „extremly interesting“ sei und sagt: „we´ll have a look“. Auch holt er das Portemonnaie hervor, um seine Absicht deutlich zu machen, jetzt zu zahlen und hineinzugehen. Aber so einfach ist das nicht. Der Pförtner hat noch etwas hinzuzufügen, und er fragt, ob wir Hebräisch könnten? Wir weisen uns als mehr oder weniger kundig aus, worauf er uns dringend auffordert, uns in diesem Fall die interaktive Multimediashow an den Computern im Untergeschoss nicht entgehen zu lassen. Man könne dort jedes einzelne Jahr anklicken und zu verschiedenen Themen historische Film-, Foto und Tonaufnahmen sehen. Zum Beispiel sei zu hören, wie Ben Gurion 1948 die Gründung des Staates Israel verkündet.

Wir bekunden nun mit allen körpersprachlichen Mitteln unser vollständiges und lebhaftes Interesse und vor allem unser Interesse, hinein zu gehen, aber der Pförtner befürchtet offenbar, ein Mangel an Vorinformationen könnte bleibende Schäden bei uns hinterlassen. Deshalb fügt er hinzu, dass auch der kleine Ausstellungsbereich um das Ditzengoff-Büro herum sehr interessant sei. Dort gebe es zum Beispiel ein Wahlplakat in Versform. Und schließlich – hat er schließlich gesagt?, kommt er zum Ende? – solle man nicht versäumen, auf die Aussichtsterrasse hinauf zu gehen. Das Haus sei auf einer sehr hohen Düne erbaut worden und biete einen schönen Rundblick auf das, was einmal das Zentrum von Tel Aviv war.

Dann vollzieht sich das lang Erhoffte, Ersehnte, kaum noch Erwartete: wir bezahlen, erhalten eine Eintrittskarte, geben unsere Taschen ab und gehen hinein.

Und das sollten Sie unbedingt auch tun, wenn Sie nach Tel Aviv kommen. Denn wenn man einmal den Pförtner überwunden hat – man kann im Zweifelsfall vielleicht behaupten, leider nur der litauischen Sprache mächtig zu sein – dann findet man bestätigt, was er erläutert hat. Und noch einiges mehr.

In Ramat Ha-Sharon, einer nördlichen Vorstadt von Tel Aviv, sah ich eine jener Gedenktafeln für die gefallenen Söhne der Stadt, wie wir sie auch aus Europa kennen. Bei uns sind dort die Namen der gefallenen Soldaten der Weltkriege zu lesen und diese Kriege liegen bekanntlich mindestens 65 Jahre zurück.

Hier in Ramat Ha-Sharon werden mehr Kriege als nur zwei aufgeführt und sie liegen nicht so weit in der Vergangenheit: der Unabhängigkeitskrieg von 1948, der Sechtagekrieg von 1967, der Jom Kippur-Krieg von 1973, die erste Libanonkrise von 1982, die zweite Libanonkrise…. Es fällt auf, dass die Überschriften mit den Namen der Kriege jeweils noch die Worte „w-achreah / …und danach“ enthalten. Es ist offenbar nicht einfach, die Toten eindeutig den Kriegen zuzuordnen, denn auch die Zeit zwischen den Kriegen ist keine Zeit des Friedens.

Dann aber, am Ende der langen Liste für so ein kleines Städtchen, fällt der Blick auf den freien Raum, den die Gedenktafel denen einräumt, die da noch kommen werden. Hier ist noch etwas Platz für zukünftige Kriege, für zukünftige Tote. Der Platz bleibt einfach frei, so als wolle man gelassen und resigniert abwarten, wer hier noch einzutragen sein wird.

In kaum einer Kultur hat das menschliche Leben so einen hohen Stellenwert, wie in der jüdischen. „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“, lehrt der Talmud. „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ hält der islamische Fundamentalismus dem entgegen (Erklärung von Al Quaida nach den Anschlägen in Madrid mit 191 Toten). Seit über 4 Jahren verhandelt Israel mit der Hamas um die Freilassung des Soldaten Gilad Shalit, der in Gaza als Geisel gehalten wird und weder Post von seiner Familie noch Besuche von UN-Mitarbeitern empfangen darf. Es heißt, man werde sich für seine Freilassung auf einen Austausch mit 1000 gefangenen Palästinensern einigen.

Dem Leben wird unterschiedlicher Wert beigemessen, in verschiedenen Kulturen und Religionen. Die Juden messen dem Leben den höchsten Wert bei. Die Geschichte jedoch lehrte sie, dass sie vorbereitet sein müssen auf die möglichen Angriffe derjenigen, die den Wert des Lebens andes einschätzen, sei es in Europa, sei es hier, im Umfeld des Landes, mit dem sie seit 3000 Jahren verbunden sind. Und sie sind vorbereitet, so scheint es bei der Betrachtung der Gedenktafel in Ramat Ha-Sharon. Sie sind es in jeder Hinsicht.

Die Erinnerung aus meinen ersten beiden Besuchen in Tel Aviv ist nicht die, dass diese Stadt sich zum Fahrradfahren anbietet: der Verkehr ist so chaotisch wie in anderen Großstädten, die Straßenführung ist bisweilen abenteuerlich, die Fahrweise unterschiedlich. Radwege gibt es am Strand und an einigen prominenten Strecken. Und sie schienen mir den Radwegen nicht unähnlich, die ich aus Italien kenne: dort sind sie gern pompös beschildert und bezeichnet, so als wolle man allen zeigen: „seht her, was für tolle Radwege wir haben“, nur damit sie zwei Ecken weiter gegen die Wand enden.

Aber ich bin schon in einigen Ländern Fahrrad gefahren und nie habe ich es bereut. Warum es also nicht auch hier probieren? Es muss ja nicht mitten durch die Stadt gehen.

In der Ben Jehuda-Straße, fußläufig nur ein paar Minuten entfernt von den Hotels der Hayarkon-Straße, wo die meisten Touristen – so wie ich – eingelagert sind, befinden sich 2 Fahrradverleihe (Cycle und O-Fun), die für 55 oder 60 Schekel (ca. 12 Euro) pro Tag Fahrräder zur Verfügung stellen.

Die Fahrrad-Anmietung folgt streng dem israelischen Grundprinzip „warum einfach wenn es auch kompliziert geht?“. Ohne Kreditkarte, so informiert mich die freundliche Verleiherin, könne sie mir kein Rad geben. Sie brauche die Kreditkartennummer oder wenigstens eine Passkopie zur Sicherheit. Also nochmals zu Fuß zurück zum Hotel und wieder hin zum Verleih mit Kreditkarte und Pass. Jetzt aber ist dort viel Betrieb, einige Kunden bringen Fahrräder zurück, andere leihen, wieder andere wollen ihr Rad reparieren lassen. Ich habe mir vorgenommen, mich vom ersten Tag an in orientalischer Geduld zu üben und warte. Eine „Minutenmeditation“ aber gelingt nicht recht, denn es wird warm und wärmer in der Sonne; ich bewege mich in den Schatten aber dort ist es genauso warm und ich warte. Dann endlich lassen sich die Formalitäten mit Unterschrift unter den Vermietungsvertrag regeln, auch einen Stadtplan gibt es noch gratis dazu und los geht´s.

Ich wende mich zunächst Richtung Meer und folge dann dem Küstenweg nach Norden Richtung Hafen. Der ehemalige Hafen von Tel Aviv wurde um die Jahrtausendwende schick gemacht, nachdem er zuvor seine eigentliche Bedeutung an Ashdod und Haifa verloren hatte und still vor sich hin verrottete, bis man sich an ihn erinnerte und ihn zu einer coolen Flaniermeile mit Clubs, Restaurants, Kleidungsgeschäften, Sportgeschäften und dergleichen umbaute. Das Konzept ist voll aufgegangen. Der Hafen ist heute praktisch immer gut besucht, am Shabbat ist er voll, die Bars und Restaurants sind wirklich gut und die Immobilienpreise inzwischen kaum zu bezahlen. Das alles steht diesem Hafen auch zu, denn seine Bedeutung für die Stadt in der relativ kurzen Zeit seiner Existenz war enorm. Der Hafen von Tel Aviv stellte nichts weniger als die Hinwendung der Juden in Israel zum Meer dar. Die Juden sind traditionell kein Seefahrervolk und auch als sie Tel Aviv 1909 in den Dünen nördlich von Jaffa gründeten und aus dem Nichts, oder besser aus dem Sand diese Metropole schufen, da geschah dies rund einen Kilometer vom Meer entfernt. Erst später schloss man durch weitere Landkäufe von arabischen Grundbesitzern die Lücke zum Meer.

Der Hafen machte die erste rein jüdische Stadt der Welt unabhängig vom arabischen Jaffa. Nun war es möglich, selbst neue Einwanderer aufzunehmen. Der Bau des Hafens geschah unter der Leitung des legendären Bürgermeisters Meir-Dizengoff, eines jener visionären Zionisten, die diese Stadt und das ganze Land mit eisernem Willen und ungeheuerlicher Dynamik errichtet haben. Von ihm ist die Anekdote überliefert, dass er bei Baubeginn zur Grundsteinlegung einen Stein ins Wasser warf und sich dann an die Umstehenden wandte mit den Worten: „Mitbürger! Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Tel Aviv keinen Hafen hatte…“.

Weiter nördlich hinter dem Szenehafen überquere ich die Mündung des Yarkon-Flusses und erreiche das Elektrizitätswerk und den zweiten Flughafen von Tel Aviv, Sde Dov. Der Weg ist durchweg sehr schön, ich folge bei bestem Wetter – bei was auch sonst? – dem Radweg am Meer und fahre bei leichtem Gegenwind stetig Richtung Norden, wo in der Ferne bereits die Hotels des noblen Städtchens Herzliya zu sehen sind. Ich beschließe erst jetzt, wohin es eigentlich gehen soll und entscheide, bis Herzliya durchzufahren, um den Ort wiederzusehen, an dem ich schon im Februar ein paar Tage verbracht habe, als wir zu jener tanzintensiven Hochzeit eingeladen waren.

Leider endet der gemütliche Radweg schließlich an einer großen Düne, auf der oben Stacheldraht und Wachtürme auf eine Militäranlage schließen lassen. Aber noch gibt es eine Straße, die sich bald vom Meer entfernt und es scheint mir angeraten, einer Stichstraße zu einem Hotelneubau zu folgen, die wieder zum Strand zurück führt. Von dort, so die Annahme, wird es wieder einen Weg am Meer geben. Weit gefehlt, wie sich bald zeigt. Die Auskunft eines entgegen kommenden Radlers, der auf meine hebräische Frage nach der Qualität der Wegstrecke auf Englisch erläutert, dass es „OK, just a little bit rocky“ sein würde, bestätigt sich etwas über das „little bit“ hinaus: es wird sehr steinig und der steinige Weg ist nicht kurz, bis nach Herzliya, er ist eher lang, er hört nicht auf, er scheint zwischenzeitlich endlos, während die vorbeifahrenden Autos mich in Staub hüllen aber dann ist Herzliya doch erreicht und es geht auf Asphalt weiter.

Ich lege eine nostalgische Mittagspause in meiner Stammstrandbar in Herzliya ein und genieße den Blick auf den israelischen Winter: Schwimmen, Sonnenbaden, Wellenreiten. Dann geht es weiter. Die Idee ist die, den Rückweg jetzt in einem Bogen von der Küste weg durchs Land zu nehmen, um ein wenig die nördlichen Vororte kennen zu lernen und um nicht auf demselben Weg zurück zu fahren, auf dem ich gekommen bin. Ein weiterer Fehler und diesmal ein verhängnisvoller, wie sich bald heraus stellt!

Von dem Strand „Chof Ha-Sharon“ beim Sharon-Hotel in Herzliya fahre ich nach Osten, überquere die Nord-Süd-Bahnlinie und erreiche den Ort Ramat Hasharon: das Niveau nimmt etwas ab aber es bleibt hübsch – aus Villenvierteln werden Einfamilienhaussiedlungen, gepflegte Gärten, ruhige Straßen, so weit so gut. Im Ortszentrum von Ramat Hasharon nimmt der Verkehr nun aber stark zu und als ich mich nach Süden wende, um wie geplant parallel zur Küste nach Tel Aviv zurück zu fahren, stehe ich bald in einem Gewirr von Autobahnen und autobahnähnlichen mehrspurigen Straßen, Auf- und Abfahrten, grünen Schildern (Autobahn) mit Hinweisen Richtung Jerusalem und Haifa. Dazwischen Kasernen und Militäranlagen und auch mal ein großes Shopping Center, das eigentlich nur von der Autobahn aus erreicht werden soll, das ich aber mit meinem Mietrad erreicht habe und nun nicht mehr weiß, wie ich hier wieder weg kommen soll.

Die Befürchtung, dass ich nur genau den Weg wieder zurück fahren kann, den ich gekommen bin, also in großem Bogen nach Nordwesten zurück ans Meer, was den Tagesausflug nicht verlängert sondern verdoppelt, wird allmählich zur Gewissheit, als ich plötzlich einen Radfahrer sehe, der nach Süden, Richtung Tel Aviv auf die Auffahrt zufährt, vor der ich gerade kapituliert habe. Ich frage ihn per Zuruf über die Straße hinweg, ob man tatsächlich in seiner Richtung mit dem Rad nach Tel Aviv kommt. „Nach Tel Aviv nicht aber nach Ramat Gan„, erklärt er mir und das ist wunderbar, denn Ramat Gan ist so gut wie Tel Aviv. Diese Ansiedlung ist zu einer wichtigen Business- und Industrie-, aber auch Wohnvorstadt mit heute 130.000 Einwohnern geworden, mit Tel Aviv de facto zusammen gewachsen und das Zentrum des israelischen Diamantenhandels. Das ist nicht ganz unerheblich, denn das kleine Israel ist der größte Diamantenexporteur der Welt.

Ich also folge meinem Retter, der eine orangene Schutzweste mit Leuchtfarben, ähnlich einem Straßenarbeiter trägt. Ich frage mich, ob er sie noch von seiner Arbeit am Leib behalten hat oder ob er sie trägt, um die lebensgefährliche Strecke zu überstehen, die wir jetzt fahren. Denn meine Vermutung, dass es hier auf die Autobahn geht, war zwar nicht ganz richtig, weil eine dritte Straße zwischen den beiden Auffahrten im Bogen nach Ramat Gan und also nicht auf die Autobahn führt, aber auch diese Straße ist sechsspurig und keine Idylle für den Radfahrer. Schließlich hält mein Vordermann mit der Schutzweste an einer Art Kreuzung, an der wir nun irgendwie vier Fahrspuren im dichtesten Verkehr (Nachmittag, Rush Hour) überqueren sollen und das scheint auch nach minutenlangem Warten schlicht unmöglich: der Strom der Autos ist unaufhörlich, lückenlos und die Geschwindigkeit zu hoch. Schließlich, nach sicher nicht weniger als 10 Minuten, erwische ich doch eine Lücke und stürze mich nach vorn über die vier Fahrspuren hinweg auf die Linksabbiegerspur, die wir erreichen müssen. Mein Begleiter ist überrascht, ruft mir noch etwas Anerkennendes ob meiner schnellen Reaktion zu, bleibt aber selbst zurück. Ich überquere die Kreuzung und warte dann auf ihn. Aber er hängt weiter fest. 2 Minuten vergehen, 4 Minuten, 6,8,10 Minuten. Er kommt nicht weg. In der Ferne hinter einem Ozean aus Autos, Lastwagen und Bussen sehe ich ihn winken und das heisst: du musst nicht warten, vielleicht übernachte ich hier. Ich fahre.

Den Abschluss des Tages bildet dann noch der Yarkon-Park, den ich nun erreiche. Hier beginnt wieder Tel Aviv und ich folge dem Fluss zurück zum Hafen und zur Stadt. Radfahren in Israel: es scheint eine durchwachsene Angelegenheit zu sein, zumindest im Umkreis von Tel Aviv. Schön, interessant und riskant liegen nah beieinander. Nun, es ist Israel.

Heute mal an dieser Stelle nur eine einfache Frage: wenn einer mit seinen Thesen so viel Staub aufwirbelt wie Thilo Sarrazin, muss er dann nicht Recht haben? Wenn es einfach Unsinn wäre, dann bräuchte niemand sich darum zu kümmern. So geschieht es ja auch: täglich wird sehr viel Unsinn verbreitet, um den sich zurecht niemand kümmert.

Deshalb empfehle ich folgenden einfachen Test. Wenn Ihnen das nächste mal jemand in der Diskussion vehement widerspricht, wie ist dann ihre innere, emotionale Reaktion? Nach meiner Erfahrung gibt es zwei Möglichkeiten: wenn ich sachlich von den Argumenten des anderen keineswegs überzeugt bin, dann gelingt es in aller Regel, innerlich ruhig zu bleiben und die Diskussion sachlich fortzuführen. Wenn ich mich aber über die heftige Kritik noch heftiger aufrege, wenn sie Wut erzeugt, dann sehr oft deshalb, weil ich weiß, dass mein Gegenüber Recht hat oder zumindest haben könnte. DAS ist es, was mich aufregt, nicht die Meinung des Anderen. Wäre es nur seine Meinung, würde ich gelassen bleiben und einfach meine besseren Argumente dagegen anführen.

Demnach ist jede dieser erregten Reaktionen aus Welt, SPD, Faz, CDU, Taz, FDP, SZ, ARD, Grünen, ZDF, etc. nicht nur die beste Werbung für Sarrazins Thesen und sein Buch, sie sind auch eine indirekte Zustimmung, ein Eingeständnis, dass er – zumindest im Grundgedanken – Recht hat oder haben könnte. Ansonsten würde man achselzuckend über ihn hinweg sehen.

Insofern könnte man fast sagen: weiter so mit Kritik und Beschimpfung, mit dem Gebrüll: „menschenverachtend“, „rassistisch!“ – wenn da nicht die Nazifalle wäre, wenn nicht die Suggestivfragen in den Interviews wären, mit denen man ihm den EINEN Kommentar entlocken will, den EINEN Halbsatz, mit dem man ihn dann doch – trotz aller Sympathie und Zustimmung in der Bevölkerung – schlachten kann.

Wir sollten es uns nun eingestehen, wir sollten die Konsequenzen ziehen: die Meinungsfreiheit ist ein Hindernis für die Informationshygiene. Solang es Meinungsfreiheit gibt, sind Fälle wie Sarrazin nie auszuschließen. Wir brauchen keine Meinungsfreiheit, wenn sie dazu führt, dass jeder öffentlich aussprechen darf, was viele denken. Denn das ist ja das Problem: viele Menschen denken wie Herr Sarrazin! Sein neues Buch ist auf Platz 1 der Amazon-Vorbestellungen. Jeder kann sich ausmalen, wohin das führen kann! Wenn wir dieser Entwicklung jetzt nicht Einhalt gebieten, dann ist nicht auszuschließen, dass diese Leute, die wie Herr Sarrazin denken, zuletzt womöglich Einfluss auf Wahlergebnisse nehmen. Die Veränderung in den Parlamenten wäre zunächst nicht so tragisch aber sie würde zu veränderten Rundfunkräten führen und somit letztlich zu einer veränderten Information in den Einbahnstraßenmedien, die – noch! – das Denken der meisten Menschen beherrschen.

Sarrazin muss weg – das ist das Thema!

Noch gelingt es, sicher zu stellen, dass nicht über die Fragen diskutiert wird, die Sarrazin aufwirft, sondern über ihn selbst. Noch sind nicht die Ausländer-, Sozial- und Bildungspolitik und die durch sie geschaffene Situation im Land das Thema der öffentlichen Diskussion in den Massenmedien, sondern fast nur die Frage, wie man Sarrazin loswerden kann, ob man ihn nicht doch noch aus der SPD ausschließen kann oder inwieweit eine Entlassung aus dem Vorstand der Bundesbank denkbar ist. Solange die Diskussion in diese Richtung gelenkt werden kann, ist es noch nicht zu spät. Aber wie lange noch? Wenn wir jetzt nicht handeln, sind ein deutscher Geert Wilders, eine deutsche SVP, ein deutsches Minarettverbot auf Dauer nicht auszuschließen. Ein Blog wie „Politically Incorrect“ hat 60.000 Leser am Tag, das sind ca. 1,8 Millionen Aufrufe im Monat! Die „Achse des Guten“ bringt es auf ungefähr 600.000 Aufrufe im Monat und diese Autoren schreiben außerdem Bestseller und viel gelesene Artikel im Spiegel, in der Welt und anderswo!

Die Meinungsfreiheit gefährdet die Basis unserer Gesellschaft

So geht es nicht weiter. Wir haben eine Güterabwägung zu treffen. Meinungsfreiheit ist eine schöne Sache aber wenn sie beginnt, die Themen beim Namen zu nennen, dem Konsens in Medien und Politik zu widersprechen und somit die Basis unserer Gesellschaft in Frage zu stellen, dann reicht es. Denn es geht um nichts weniger und nichts mehr als die Basis, die tatsächliche Grundlage unserer Gesellschaft. Die Grundlage der deutschen Gesellschaft war nie die Demokratie und mit ihr die Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Demokratie hat man vor sechzig Jahren den Deutschen in blutigsten aller Kriege aufzwingen müssen. Demokratie hat für die Deutschen noch nie mehr bedeutet, als alle vier Jahre Wahlen zu organisieren. Die wirkliche Grundlage der deutschen Gesellschaft ist heute der sozialdemokratisch-multikulturelle Konsens, der mühsam geschaffen werden musste. Und jetzt, wo es erreicht ist, dass praktisch jeder Lehrer auf Linie ist, dass „Logo“ auf Kika den Kindern erklärt, wie böse BP schon immer war, weil der Golf von Mexico auf immer verseucht sein wird, jetzt, wo endlich Genderbeauftragte in Stadtverwaltungen sitzen und Nachhaltigkeit in aller Munde ist, jetzt müssen wir es einsehen und handeln: weg mit der Meinungsfreiheit und her mit einer optisch nicht zu hässlichen aber wirkungsvollen Gedankenpolizei!

Keine Meinungsvielfalt sondern die richtige Meinungsproduktion

Denn wir sind die Genderbeauftragten, die Journalisten, die Politiker, die staatlich alimentierten Kulturschaffenden. Wir kennen unsere Klientel: das Linksbürgertum, viele der ebenfalls staatlich alimentierten Beamten und öffentlichen Angestellten, die Fraktion „Arbeitsscheu und Trinkfest“ und einige der Migranten selbst. Und wir sind fett im Geschäft. Das lassen wir uns von dem kläglichen Rest nicht kaputt machen, der dumm genug ist, produktiv zu sein und Steuern zu zahlen. Manager sind Verbrecher, Banker sind Monster und im Prinzip wäre der Sozialismus das bessere System: das ist Konsens, das ist der Strom, auf dem wir treiben und es geht uns sehr gut dabei, denn die Steuergelder fließen. Wir brauchen keine Meinungsfreiheit, wir brauchen Meinungsproduktion und zwar die richtige: Herstellung der richtigen Meinungen durch eine dazu berufene Kaste. Wir wollen nicht, dass sich diejenigen zu laut zu Wort melden, die das alles bezahlen. Denn das sind diejenigen, die Herr Sarrazin vertritt und die seine Bücher lesen. Wehret den Anfängen! Schafft eine, zwei, hundert Eva Herrmanns!