Wie schon vielfach festgestellt, gibt es Menschen, die heißen „Rechtspopulist“ mit Vornamen. Herr Wilders zum Beispiel oder Herr Blocher aus der Schweiz, auch der tschechische Präsident Vaclav Klaus oder bis vor einiger Zeit der Herr Haider aus Österreich. Diese Menschen müssen offenbar eindeutig gekennzeichnet werden. Warum werden Menschen gekennzeichnet? Warum hat man zum Beispiel Juden in Deutschland gekennzeichnet?
Die Kennzeichnung soll klar machen, dass der gekennzeichnete Mensch gefährlich ist oder: sie soll klar machen, dass der gekennzeichnete Mensch eindeutig zu bewerten ist. Im Falle der Juden im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts ging es nicht um Gefahr, es ging darum, dass die antisemitischen Vorurteile auf ein optisches Signal hin – Judenstern – sofort wirken sollten. Entscheidend ist hier wie immer das „sofort“. Es muss darum gehen, die Verdammungswürdigkeit klar zu machen, das Gefühl (Gefühl!) des Abscheus zu erzeugen, bevor ein Gespräch oder ein sonstwie gearteter Kontakt mit der Person dazu führen könnte, dass das mühsam von der Propaganda aufgebaute und gehegte Vorurteil in Frage gestellt wird.
Die Gefährlichkeit der Wahrheit
Vaclav Havel weist in dem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ auf die enorme Labilität von Diktaturen hin. Er sagt sinngemäß, dass die Geheimpolizei, die Überwachung, die Kontrolle, die sofortige Bestrafung jeder Abweichung ein Zeichen dafür sind, dass die Diktatur genau weiß, wie schwach sie ist. Sie weiß, dass eine Handvoll Menschen, die sich trifft und die Wahrheit diskutiert und möglicherweiserweise eine Opposition beginnt, eine tödliche Gefahr für sie ist. Da die Diktatur allein auf Lüge basiert, ist schon der Keim der Wahrheit gefährlich für sie. Denn die Wahrheit kann sich sehr schnell ausbreiten. In der Diktatur tragen die Menschen die Wahrheit in ihren Herzen und warten nur darauf, sie aussprechen, sie ausleben zu können. Tatsächlich zeigt die Geschichte, dass einzelne Menschen, kleine Gruppen von Mutigen am Anfang großer Umwälzungen stehen.
Aber die klassische Diktatur gerät außer Mode, sie ist nicht mehr zeitgemäß. Heute muss es darum gehen, die Menschen glauben zu lassen, sie seien frei und lebten in Demokratie und Rechtsstaat, während man gleichzeitig ihre Meinung, ihr Denken kontrolliert. Zwar wird auch das immer schwieriger, denn der Einfluss der Einbahnstraßen-Massenmedien wie Fernsehen, Radio, Zeitungen schwindet zugunsten der interaktiven Medien, zugunsten des Internets. Doch das Beispiel Italien zeigt, dass eine praktisch vollständige Kontrolle des Fernsehens und der wichtigsten Printmedien noch immer ausreicht, um das Denken der Mehrheit der Menschen in die von den Mächtigen gewollte Richtung zu lenken.
Warnhinweis gegen nähere Betrachtung
Der „Rechtspopulist“ also muss gekennzeichnet werden, damit man ihn eindeutig bewertet, bevor man sich mit ihm wirklich beschäftigt. Schaut man näher hin, so müsste man zum Beispiel im Falle der schweizer SVP feststellen, dass diese Partei zwar eindeutig politisch rechts steht, dass sie aber vor allem das ist, was sie in ihrem Namen ausdrückt: eine Volkspartei, die die Anliegen der traditionellen Schweizer, der schweizer Bauern zum Beispiel vertritt. Sie ist aus der Schweizer Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei hervor gegangen. In der SVP vertritt niemand ausländerfeindliche Positionen. Die SVP belegt sachlich mit Zahlen und Statistiken, dass die Kriminalität in der Schweiz zum sehr überwiegenden Teil von Ausländern zu verantworten ist. Sie fordert: wer in die Schweiz kommt, um hier zu leben, der muss sich an die hiesigen Gesetze halten. Tut jemand dies wiederholt nicht oder wird er schwer straffällig, so muss die Möglichkeit bestehen, ihn des Landes zu verweisen. Er kann ja dann – nach Vorstellung der SVP – dorthin zurück kehren, woher er gekommen ist. Dies ist restriktive Ausländerpolitik aber es ist nicht ausländerfeindlich, denn niemand in der SVP sagt, dass Ausländer an sich ein Problem sind. Niemand in der SVP fordert „die Schweiz den Schweizern“.
Aber diese Differenzierung soll verhindert werden, diese nähere Betrachtung ist schon gefährlich. Daher die Kennzeichnung, das Etikett, der Warnhinweis. Warum aber ist die nähere Betrachtung der Positionen der „Rechtspopulisten“ gefährlich?
Das Wort „Populismus“ enthält den lateinischen Begriff Populus: Volk. Er entspricht dem altgriechischen Begriff Demos: Volk. Eine interessante Übereinstimmung. Die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, ist zweifellos die Heimat der „Populisten“. In einer Diktatur sind sie nicht vorstellbar. In einer Diktatur ist es nicht vorstellbar, dass jemand mit klaren, oft auch einfachen, vielleicht auch zu einfachen Positionen viel „Volk“ an sich zieht. Aber wenn jemand mit seinen Gedanken, Ideen und Konzepten viel „Volk“ für sich begeistern kann, ist das nicht der Sinn und die Essenz der Demokratie? Ist das nicht eigentlich etwas Erfreuliches, im Zeitalter der Politikverdrossenheit, des allgemeinen Desinteresses, der gesunkenen Wahlbeteiligungen? Selbstverständlich haben auch die Nazis zunächst die Demokratie benutzt und sie dann abgeschafft – aber die Nazis haben nie verhehlt, dass sie die Demokratie verachteten und ihre Abschaffung bezweckten. Die Nazis waren keine Populisten, sondern erklärte Antidemokraten. Dieser Vergleich ist also nicht weiter hilfreich.
Der neue Klassenkampf
Warum wollen also manche Journalisten Menschen als gefährlich oder verabscheuungswürdig kennzeichnen, die nichts anderes tun, als die Demokratie zu beleben? Warum wollen Journalisten Vorurteile schüren, bevor der Leser sich inhaltlich mit dem Bösen beschäftigt, vor dem man ihn warnen will, von dem man ihn fernhalten will?
In einem ihrer wunderbaren Artikel unter dem Titel „Klassenkampf von oben“ formulieren Dirk Maxeiner und Michael Miersch die Idee, dass wir im Zeitalter eines neuen Klassenkampfes leben: dem Klassenkampf zwischen dem produktiven Sektor und dem öffentlichen Dienst. (siehe „Frohe Botschaften„, S. 42). Ich würde dies ausweiten und von einem Klassenkampf zwischen dem produktiven und dem unproduktiven Teil der Bevölkerung sprechen. Zum unproduktiven Teil gehören alle, die von Steuergeldern leben, was sehr gut gerechtfertigt sein kann, wie im Falle von Rentnern, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, und weniger gut, wie im Falle von Menschen, die lieber von staatlicher Fürsorge leben als zu arbeiten. Hinzu kommen noch viele andere, wie die zahlreichen Beamten (der weit überwiegende Teil der deutschen Abgeordneten sind Beamte) und der größte Teil des Kulturbetriebes, der in Deutschland praktisch allein von staatlicher Alimentation lebt. Diese Vereinnahmung des Kulturbetriebes war nach Maxeiner & Miersch „der genialste Schachzug im Klassenkampf von oben“. Er führt dazu, dass fast jegliche Kritik an der herrschenden – unproduktiven – Klasse unterbleibt.
Kritik an der herrschenden Klasse
Dies aber ist das Geschäft der Rechtspopulisten: sie üben Kritik an der herrschenden Klasse. Und so viele Menschen stimmen zu, dass sie den Herrschenden in der Politik und im Kulturbetrieb gefährlich werden und zum Kulturbetrieb gehören auch die meisten Medien. Die öffentlich-rechtlichen Medien gehören dem Staat. Der Staat lebt von Steuern. Diese Steuern treiben die Regierenden ein. Die Rechtspopulisten aber üben Kritik an den Regierenden und sie üben – schau an! – überall auch Kritik an zu hohen Steuern und staatlicher Alimentierung. Auch deshalb müssen sie als gefährlich oder verabscheuungswürdig gekennzeichnet werden. Fast niemand interessiert sich mehr für Politik. Es sei denn, die „Populisten“ treten auf. Sie können die Menschen noch begeistern, zu Recht oder zu Unrecht, das sei dahin gestellt. Die herrschende Klasse fürchtet die „Populisten“. Weiß sie um ihre Schwäche, weiß sie um die Gefahr, die von einer Position ausgehen kann, die der vorherrschenden Wahrheit widerspricht? Ist „eine andere Wahrheit“ für unsere postmoderne und immer leidenschaftslosere Demokratie bereits ähnlich gefährlich wie der Keim der Opposition in der Diktatur?
Als ich ein Kind war, hatten Wahlen in Deutschland eine Beteiligung von 80-90%. Heute sind es ca. 60%. Ich denke, es liegt auf der Hand, warum die Menschen das Interesse an der Demokratie verlieren. Die repräsentative Demokratie in so großen Einheiten wie der EU oder einem Staat mit 80 Millionen Einwohnern ohne direkte Mitwirkung des Volkes, ohne Volksabstimmungen, ist sehr weit von den Menschen entfernt und zu einer Parteienbürokratie verkommen. Die Parteiapparate beschäftigen sich im Wesentlichen mit Machterhalt und Postenbesetzung. Nur wer sich intern jahrelang durch Anbiederung bei den jeweils mächtigen Parteiführern einerseits und durch Bekämpfung seiner Widersacher andererseits hocharbeitet, kann in Spitzenfunktionen in den Parteien kommen. Es scheint, als ob niemand mehr Politik aus Leidenschaft macht, dass niemand mehr für Grundüberzeugungen und Werte eintritt. So jemand hätte heute nicht den nötigen „Stallgeruch“. Leute wie Wehner, Strauß, Brandt, Adenauer, Schuhmacher, Schmidt hätten heute in den Parteien keine Chance mehr. Deshalb dieses totale Mittelmaß, dieses fehlende Charisma, diese Beliebigkeit auch der inhaltlichen Positionen. In diese Lücke stoßen die „Rechtspopulisten“ und viele Menschen stimmen ihnen zu. Warum nur? Vielleicht, weil diese „Populisten“ gewissermaßen die letzten Demokraten sind?